Sexualität und geistige Behinderung

Menschen mit geistiger Behinderung können ein erfülltes Leben führen, wenn sie die notwendige Unterstützung und Förderung bekommen. Dazu gehört, dass sie so selbständig wie nur irgend möglich leben dürfen und dass auch ihre sexuellen Bedürfnisse anerkannt werden. Die heute 29-jährige Iris ist hierfür ein gutes Beispiel: Iris bekam bei ihrer Geburt zu wenig Luft. Sie ist geistig behindert. Sie besuchte eine Sonderschule, lernte jedoch kaum Lesen, Schreiben und Rechnen. „Ich war zu faul!“ sagt sie heute. Einen Beruf wollte sie unbedingt lernen, doch wegen ihrer schlechten Zeugnisse fand sie keine Lehrstelle.

Ein pensionierter Lehrer in der Nachbarschaft bekam ihre Trauer und Verzweiflung mit und bot ihr an, sie jeden Tag  zwei Stunden zu unterrichten, bis sie die Hauptschulabschlussprüfung bestanden hätte. Überglücklich stimmte sie zu. Nach drei Jahren schaffte sie die Prüfung, und rasch fand sie einen Ausbildungsplatz als Hauswirtschaftshelferin in einem großen Krankenhaus.Da lernte sie einen gleichaltrigen jungen Mann kennen, der als Lagerarbeiter tätig war. Die beiden verliebten sich und zogen zusammen. Diese Veränderung erwies sich als entscheidend für die weitere Entwicklung von Iris.

Plötzlich nicht mehr von den eigenen Eltern rundum liebevoll versorgt, musste sie lernen, in gemeinsamer Verantwortung mit einem anderen Menschen die alltäglichen Aufgaben zu bewältigen: die Wohnung in Ordnung halten, einkaufen, Essen bereiten, die gemeinsame Freizeit mitgestalten. Sie strengte sich an, weil sie spürte, wie sehr sie geliebt wurde, und diese Liebe wollte sie zurückgeben. Sie wurde selbständiger und selbstbewusster. Nach Beendigung ihrer Ausbildung wurde sie als Helferin fest angestellt. Bald darauf heirateten die beiden jungen Leute. Ihr Mann weiß, dass seine Frau geistig behindert ist; sie ergänzen sich, und Iris ist für ihn eine gute Partnerin.

Iris sagt heute, sie habe am meisten dem alter Lehrer und Ihren Eltern zu verdanken: Mit dem Lehrer konnte sie sich die Voraussetzungen für eine Berufsausbildung erarbeiten. Ihre Eltern waren damit einverstanden, dass sie sich auf eine Liebesbeziehung einließ, in der auch die sexuellen Bedürfnisse verwirklicht werden konnten.

Jeder Mensch hat Sexualität

Noch vor einer Generation – also vor ungefähr 30 Jahren – behaupteten die meisten Fachleute, sexuelle Bedürfnisse dürften sich bei Menschen mit geistiger Behinderung nie entfalten; sexuelle Regungen, Ansätze zur sexuellen Befriedigung müssten „im Keim erstickt“ werden. Man fürchtete, Menschen mit geistiger Behinderung könnten wegen Ihrer Intelligenzmängel die Sexualität nicht beherrschen, wenn sie erst einmal „erwacht“ ist – sie seien in der Gefahr, zu „Triebtätern“ zu werden.

Heute denkt kaum noch jemand so und das Thema Sex mit Behinderung drängt in den Vordergrund. Statt dessen wird oft behauptet, Menschen mit geistiger Behinderung blieben eigentlich immer Kinder, und das gelte gerade auch für ihre sexuellen Bedürfnisse: Sie wünschten körperliche Nähe, Zärtlichkeit, aber nicht Sexualität.

Das mag manchmal zutreffen. Es gibt schwere geistige Behinderungen, die die Entwicklung sexuellen Begehrens nicht ermöglichen. Meist bleibt dann auch die Sprachentwicklung auf einer frühen Stufe stecken. Im allgemeinen aber gilt: Menschen mit geistiger Behinderung sind ebenso verschieden und auch in ihrer Sexualität so einmalig geprägt wie alle anderen Menschen. Den „typischen“ Menschen mit geistiger Behinderung gibt es nicht, und auch zur Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung kann nichts ausgesagt werden, was für alle gleichermaßen zutrifft. Aufgrund der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte steht lediglich eines fest: Die sexuelle Entwicklung ist Menschen mit geistiger Behinderung ebenso bedeutungsvoll wie für jeden anderen Menschen.

Wie entwicklungspsychologische Untersuchungen nachgewiesen haben, bedeuten mangelnde sexuelle Bedürfnisäußerungen und Interessen immer, dass eine Persönlichkeit in ihrer Entwicklung stark gefährdet, wenn nicht längst empfindlich gestört ist. Sexuell unterdrückte Menschen mit geistiger Behinderung fallen auf durch häufige Aggressionen und Verstimmungen, die von rasch aufkommender Resignation bis zu tiefen Depressionen reichen können. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wohnstätten für Erwachsene berichten, seitdem die früher übliche strenge Geschlechtertrennung aufgehoben ist, sie der Verbrauch von Pharmaka gegen Aggressivität und Depressivität stark zurückgegangen.

Alle Menschen (auch die mit geistiger Behinderung) können ihre Persönlichkeit dann am besten ausbilden, wenn die sexuellen Fähigkeiten von Geburt an unterstützt und gefördert werden. Dazu ist eine besondere Begleitung erforderlich, denn die Sexualität ist nicht angeboren und entwickelt sich nicht von selbst.

Wie entwickelt sich Sexualität?

Die sexuelle Entwicklung verlangt wie die Sprachfähigkeit Anregung und Übung. Wer Sprache nie hört, lernt nicht sprechen. Wer allzu selten Zärtlichkeit empfängt, lernt nicht zärtlich zu sein, sein Körper wird für sexuelle Reize nicht empfindsam.
Es kommt vor allem auf die liebevollen zärtlichen Körperkontakte an. Bereits Babys reagieren auf körperbezogene Zuwendungen mit Reaktionen des Wohlgefühls: Sie lächeln, lachen, lallen, bewegen lebhaft den ganzen Körper. Etwa in der Mitte des ersten Lebensjahres fangen die Kinder an, mit ihrem Körper lustvoll umzugehen. Dabei entdecken sie die Selbstbefriedigung.

Eltern von Kindern, die geistig behindert sind, berichten, wie enttäuscht sie waren, dass sie solche lebhaften Reaktionen nie erlebten. Sie glaubten: „Mein Kind merkt mein Streicheln gar nicht, es hat nichts davon, wenn ich zärtlich bin.“ Es ist verständlich, wenn die zärtlichen Zuwendungen nach einiger Zeit immer knapper, weniger vielseitig und intensiv werden. Für das Kind aber entstehen sehr negative Folgen: seine Empfindungs- und Gefühlsfähigkeiten bekommen zu wenig Anreize, sie werden nicht geweckt und angeregt, und so bleibt der eigene Körper letztlich unvertraut und fremd, und auch die Sexualität wird zu wenig unterstützt und gefördert, sodass sie oft gar nicht entstehen kann.

Die körperlichen und sexuellen Fähigkeiten entwickeln sich bei den meisten Menschen mit geistiger Behinderung ebenso langsam wie die Fähigkeiten ihrer Intelligenz. Menschen mit geistiger Behinderung sind nicht unempfindsam; aber sie brauchen meist sehr viel mehr Zuwendung, damit ihre Empfindungsfähigkeit geweckt wird, und es dauert bei ihnen oft länger, bis sie angenehme Empfindungen wahrnehmen und schließlich mit Wonnereaktionen beantworten können.

Es ist nicht einfach im Umgang mit Kindern, die schwerer geistig behindert sind, herauszufinden, was sie mögen, was gut für sie ist und sie fördert. Eltern können sich dabei durch ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen im Kontakt mit den Kindern anregen lassen. Manchmal kann es richtig sein, wenn Kinder mit geistiger Behinderung länger gebadet werden als andere Kinder, damit Wohlbefinden sich entwickeln, ausbreiten und allmählich wahrgenommen werden kann. Nach dem Baden brauchen manche Kinder eine ausgiebige „Ganzkörpermassage“.Viel Geduld ist auch nötig, damit das „Wonnesaugen“ nach dem „Nahrungsaugen“ entstehen kann, denn anfangs kommt es häufig vor, dass die Kinder, sobald sie satt sind, in den Schlaf wegsinken. Vielleicht hilft es, wenn ihr Mund noch eine Weile an der Brustwarze oder am Sauger bleiben kann. Wenn die Kinder möglichst immer mit nacktem Oberkörper genährt werden (auch wenn Männer die Flasche geben), wird ihnen eher die Körperwärme und der Körpergeruch des anderen Menschen vertraut. Nach dem Baden und Massieren müssen die Kinder nicht gleich wieder in die Windel eingepackt werden, sondern sie sollten Zeit haben, an und mit ihrem Körper herumzuspielen, sich zu empfinden und dabei ihren Körper zugreifend begreifen zu lernen.

Kindergruppen und Kinderfreundschaften

Soziale Fähigkeiten und altersgemäße Fertigkeiten im Umgang mit sexuellen Reizen und Empfindungen lernen Kinder am schnellsten und zuverlässigsten von Gleichaltrigen und etwas Älteren. Die notwendigen Voraussetzungen für ein „lebendiges Lernen im Alltag“ – das ständige Zusammensein mit vielen Kindern – müssen schon seit langem eigens geschaffen werden, weil die geringe Geschwisterzahl in der großen Mehrheit der Familien und die geringe Zahl gleichaltriger Kinder in der Nachbarschaft keine besonders förderlichen Bedingungen bieten.
Wie andere Kinder, so kommen auch Kinder, die geistig behindert sind, meist erst im Kindergarten mit Gleichaltrigen in größerer Zahl zusammen. Erst hier können sie andere Kinder genauer kennen lernen und sie zumindest manchmal auch nackt sehen.
In vielen Kindergärten gibt es heute Rückzugsmöglichkeiten für die Kinder (Zelte, Häuschen, Hochsitze), wo sie ungestört „Doktor“ und „Vater und Mutter“ spielen können. Manchen Kindern mit geistiger Behinderung fällt erst jetzt auf, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich gestaltete Geschlechtsorgane haben. Sie brauchen Erklärungen, auch wenn sie keine Fragen stellen oder wegen sprachlicher Behinderung nicht fragen können.

Zuhause und in ihrer Freizeit sind Kinder, die geistig behindert sind, gegenüber anderen Kindern meist allein schon darum benachteiligt, weil sie nicht so selbständig und beweglich sind und daher noch weniger Kontakte mit Gleichaltrigen haben. Weil sie darüber hinaus ständig betreut werden müssen (oder weil die nahen Bezugspersonen wie Eltern und Betreuerinnen glauben, eine ständige Betreuung sei nötig), sind geistig behinderte Kinder sehr viel seltener unkontrolliert.
Um so wichtiger ist es, dass Kinder, die geistig behindert sind, wenigstens dort, wo sie mit vielen Gleichaltrigen zusammenkommen (in Krippen und Kindergärten, in Schulen und Tagesstätten) Gelegenheiten finden, auch einmal unbeobachtet zusammenzusein, um sie auszuprobieren und voneinander zu lernen, gerade auch im Körperlichen und Sexuellen.

Geachtet werden muss lediglich darauf, dass die Kinder sich nicht gegenseitig wehtun und dass sie nur das tun, was sie selber wollen. Dazu brauchen sie manchmal die Unterstützung von den Erwachsenen.
Häufig finden Kinder ihre ersten Freundinnen und Freunde in der Nachbarschaft. Kinder, die geistig behindert sind, schließen ihre Freundschaften meist in Einrichtungen, zu denen Sie morgens hingebracht und von denen sie mittags oder nachmittags wieder abgeholt werden. Die Pflege dieser Freundschaften ist gewöhnlich dadurch erschwert, dass die Kinder weit voneinander entfernt wohnen. Wieder einmal und hier ganz besonders sind Kinder mit geistiger Behinderung auf das Verständnis und die Hilfe ihrer Eltern angewiesen.Es hat sich sehr bewährt, wenn die Eltern der befreundeten Kinder miteinander Kontakt aufnehmen und verabreden, wie ihre Kinder möglichst oft zusammengebracht werden können. Oft erleben sie dann, dass auch Kinder mit geistiger Behinderung auf gute Ideen kommen, was sie alles miteinander unternehmen können, wenn man sie nur lässt, und dass sie auch zu tief empfundenen langandauernden Beziehungen fähig sind.

Gegenseitige Besuche, auch Übernachtungen beim  Freund, bei der Freundin sind im Kindesalter für die Eltern weniger problembelastet als später im Jugendalter. Das kennen lernen einer anderen Familie und einer anderen Wohnung, das vertraut werden mit anderen Lebensgewohnheiten und Umgangsformen weitet den Horizont. Soziale Fähigkeiten, die für den Umgang mit Menschen außerhalb der eigenen Familie wichtig sind, werden entwickelt.

Aber doch nicht öffentlich!

Viele Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung würden der Sexualerziehung gern die gleiche Aufmerksamkeit widmen, wie der Intelligenzförderung, wenn sie nicht die Angst hätten, dass ihr Kind in der Öffentlichkeit das Gelernte ungeniert vorzeigt. Mit Schrecken denken sie daran, was alles passieren könnte, wenn ihr Kind im Bus sich plötzlich unter den Rock oder in die Hose greift und zu onanieren anfängt.Diese Eltern trauen ihren Erziehungsfähigkeiten zu wenig zu, und sie unterschätzen ihre Kinder. Was haben die Eltern alles – oft mit viel Geduld – ihrem Kind schon beigebracht: dass die Hose wenigstens tagsüber trocken und sauber bleibt, dass im Bus (und überhaupt in der Öffentlichkeit) nicht in der Nase gebohrt wird, dass zur Begrüßung die rechte Hand gegeben werden muss und vieles andere mehr. Kinder, die das gelernt haben, wissen schon, dass Öffentlichkeit und Intimbereich unterschiedliche Verhaltensweisen verlangen, sie wissen auch, dass es Regeln gibt, und sie wissen sogar, dass die Regeln nicht überall die gleiche Geltung haben. Diesen Kindern fällt es verhältnismäßig leicht, nun auch noch zu lernen, in der Öffentlichkeit das Schamgefühl anderer Menschen zu respektieren – es muss ihnen vielleicht nur wiederholt erklärt werden, um ihr Gedächtnis aufzufrischen.

Für das Leben in der Öffentlichkeit mit Kindern, die eine geistige Behinderung haben, gilt, dass die Eltern nicht immer gleich ein schlechtes Gewissen kriegen und sich gegenüber ihrem Kind zum strafenden Aufpasser machen lassen müssen, wenn sich jemand über ihr Kind beschwert. Wenn sie reagieren wollen, könnten Eltern statt dessen vielleicht sagen:
„Ich verstehe, dass Sie sich beschweren. Wissen Sie, Helga (oder Dieter oder ……) ist geistig behindert und muss noch viel lernen. Sie helfen aber sehr, wenn Sie dem Kind selbst sagen, was Ihnen nicht passt. Das wirkt einfach beeindruckender und nachhaltiger.“

Pubertät

Die meisten Eltern denken mit einigem Schrecken an die Pubertät ihrer Kinder zurück. Das mag die Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung trösten: Eigenwilligkeit, Trotz, heftige Auseinandersetzungen mit Mutter und Vater, Nachlässigkeiten in der eigenen Körperhygiene und bei der Kleidung, seltsame Geschmacksverirrungen sind keineswegs auf Jugendliche mit geistiger Behinderung beschränkt, sie sind vielmehr typisch für alle Pubertierenden.Im allgemeinen werden vom üblichen Schema abweichende körperliche Entwicklungen bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht beobachtet. Es gibt nur wenige und selten vorkommende Behinderungsformen, bei denen die genitale Sexualität unterentwickelt bleibt (z. B.: Minderwuchs der Genitalien, fehlende Genitalbehaarung, Ausbleiben der Regelblutung oder Samenergusses) Während die körperliche Entwicklung im allgemeinen altersentsprechend verläuft, ist die seelisch-geistige Entwicklung meistens verlangsamt und länger andauernd: Die körperliche Reife entspricht meist nicht der affektiven und emotionalen Entwicklung und den Möglichkeiten der intellektuellen Verarbeitung.

Daraus darf jedoch keineswegs geschlossen werden, Menschen mit geistiger Behinderung seien nicht fähig, ihre sexuellen Triebe und Wünsche zu kontrollieren und zu beherrschen; vielmehr gilt umgekehrt, dass sie lange brauchen, bis sie nachempfinden und verstehen, was ihnen sexuell möglich wäre, und dass sie oft erst als Erwachsene fähig sind, ein ihnen entsprechendes Sexualleben zu gestalten. Alle Untersuchungen stimmen darin überein, dass es bei Menschen mit geistiger Behinderung keine übersteigerte Triebhaftigkeit gibt.

Vor lauter Sorgen und Befürchtungen wird meist übersehen, dass die Pubertät gerade für Menschen mit geistiger Behinderung eine große Chance ist. „Triebstau“ und innere Beunruhigung können dazu führen, dass sexuelle Befriedigungsmöglichkeiten entdeckt werden und womöglich zu einem anderen Menschen ein Verhältnis der Zuneigung, vielleicht sogar der Liebe entsteht. Damit ist meist eine erstaunliche Nachreife der gesamten Persönlichkeit verbunden.

Probleme im JugendalterDie Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung ist immer in der Gefahr, mehr von den Befürchtungen und Ängsten derer bestimmt zu sein, die für sie verantwortlich sind (Eltern, Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wohn- und Werkstätten), als von den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen mit geistiger Behinderung. Wenn ihre Pubertät normal verläuft, wenn sie gesellige Beziehungen mit Gleichaltrigen haben und es auch zu sexuellen Kontakten kommt, dann unterscheiden sich die Probleme von Jugendlichen, die geistig behindert sind, gar nicht so sehr von denen, die nicht-behinderte Jugendliche haben.

Am wichtigsten ist es wohl, dass Mädchen und Jungen ausreichend über die körperlichen Veränderungen in der Pubertät informiert werden. Sie sollten über die Monatsblutung und den Samenerguss möglichst schon aufgeklärt sein, bevor diese Ereignisse eintreten. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn abstrakte Gegebenheiten – in diesem Fall: Vorstellungen von noch nicht Erlebtem – vermittelt werden können. Es gibt Familien, die den ersten Samenerguss oder die erste Monatsblutung zum Anlass nehmen, ein Familienfest zu feiern, weil eine entscheidende Schwelle hin zum Erwachsensein überschritten wurde. Der erste Samenerguss sollte die gleiche Beachtung finden wie die erste Blutung.

Positiv wirkt es sich jetzt aus, wenn die Jugendlichen  nicht allzu schamhaft erzogen  worden sind, denn dann kann über Papiertaschentücher für die „Entsorgung“ des Samenergusses, über den Umgang mit Tampons oder Binden offen geredet werden, und den Jungen und Mädchen fällt es leichter, mit ihren Eltern zu reden, wenn sie Schwierigkeiten haben.

Die Eltern sollten die Verantwortlichen in den Einrichtungen ihres Kindes über den Stand der Aufgeklärtheit informieren. Eltern und Einrichtungen müssen sich unbedingt darüber austauschen, wie Aufklärung gehandhabt wird, damit die Heranwachsenden bis über ihr zwanzigstes Lebensjahr hinaus nicht immer wieder in Ängste geraten, sie seien krank, sie müssten verbluten, sie hätten ins Bett gemacht.

Auf zwei besondere Probleme, die meist erst in der Pubertät auffällig werden, soll hier eingegangen werden:
SelbstbefriedigungIn einer Selbsthilfegruppe such Frau M. Rat für ihren 17-jährigen Sohn Tim, einen Jugendlichen mit Downsyndrom. Sie berichtet:Tim geht, wenn er aus der Werkstatt nach Hause kommt, stets zunächst in sein Zimmer, legt sich bäuchlings auf den Teppich und fängt an, zu rütteln, zu stoßen, er macht beischlafähnliche Bewegungen. Mir ist klar, dass Tim sexuell erregt ist und sich befriedigen will, aber offensichtlich weiß er nicht, wie das geht. Schließlich bleibt er mit knallrotem Gesicht, atemlos, völlig verschwitzt erschöpft liegen. Noch eine ganze Weile danach ist er schlecht gelaunt.“Tim ist wahrscheinlich (wie viele Jungen mit Downsyndrom) so stark geistig behindert, dass er Hilfe braucht, um die Selbstbefriedigung zu lernen. Werden ihm diese Hilfen verweigert, bleibt seine Sexualität gehemmt und unterentwickelt. Seine Versuche, sich selbst zu befriedigen, werden zu einer Quälerei.

Er erlebt Leid, nicht Lust. Bereits beim Entdecken ihrer Sexualorgane sind Menschen mit geistiger Behinderung benachteiligt.Jungen ist ihr Glied als Ausscheidungsorgan, das sie in die Hand nehmen, vertraut; aber wenn sie anfangen, die Gliedversteifungen bewusst wahrzunehmen, reagieren sie oft erschrocken. Sie sind besorgt, ob sie krank sind; manche empfinden die Spannungsgefühle nicht als lustvoll, sondern sie tun ihnen weh. Es ist gut, wenn sie jemand beruhigen kann und erklärt – beispielsweise wenn beim Baden der Penis gereinigt wird – dass dieser nicht nur zum Pinkeln da ist, sondern dass er auch Lust machen kann und dass er dazu steif wird. Manchmal entsteht bereits eine Reaktion, wenn zum Reinigen nur die Vorhaut zurückgeschoben wird; das ist eine gute Gelegenheit, um zu erklären, wie das Glied „lustvoll behandelt“ werden kann.

Manchmal sagen die Kinder dann: „Mach weiter!“ oder „Mach du mal“! dann kann man ihnen sagen: „Wenn du das selbst machst, nennt man das Selbstbefriedigung. Das gehört dir ganz allein. Das soll kein anderer machen.“
Bei Tim kommt solche Hinführung zur Selbstbefriedigung zu spät. Ihm muss erklärt werden, dass es in Ordnung ist, wenn er sexuelle Lust haben will, dass seine „Methode“ aber nicht erfolgreich ist. Ihm kann geraten werden, sich ins Bett zu legen und wenigstens Hose und Unterhose auszuziehen, damit er seine Genitalien leicht mit den Händen erreichen kann.

Die „Methode“ der Selbstbefriedigung kann an einem einfachen „Modell“ gezeigt werden:
An einem Wollhandschuh ist vom Mittelfinger die Kuppe aufgeschnitten. Der Handschuh wird angezogen. Der Mittelfinger ist das Glied, der vorn offene Wollfinger ist die Vorhaut. Man kann jetzt gut zeigen, wie die „Vorhaut“ vor- und zurückgeschoben wird, dass man auf die Empfindungen achten muss und je nachdem fester und schneller, vor allem aber ausdauernd reiben muss, bis der Samenerguss erfolgt.

Für Mädchen ist es meist komplizierter herauszufinden, wie Selbstbefriedigung möglich ist. Ihnen muss bereits geholfen werden, damit sie ihr Hauptlustorgan (den Kitzler, die Clitoris) überhaupt entdecken.
In den meisten Aufklärungsbüchern für Jugendliche gibt es Schemazeichnungen der Geschlechtsorgane. Sie sind geeignet, um einen ersten Überblick zu vermitteln. Mädchen, die geistig behindert sind, brauchen aber meist weitere Hilfen, um sich mit den wirklichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Dabei kann ein Handspiegel nützlich sein. Das Mädchen sitzt auf dem Bett, nimmt ihre Beine auseinander und stellt zwischen die Beine einen Handspiegel. Wenn sie ihre Geschlechtsspalte mit den Händen etwas weitet, kann sie sich ansehen, wie es bei ihr von innen aussieht, und sie kann die Gegebenheiten mit der vor ihr liegenden Abbildung vergleichen. Mit den eigenen Fingern kann ertastet werden, wie sich das anfühlt, und dabei kann auch erklärt werden, wie Selbstbefriedigung möglich ist.Es gibt so schwere Formen der geistigen Behinderung, dass eine „Methode“ der Selbstbefriedigung nicht gelernt werden kann. Recht zuverlässige Hinweise geben die Jungen und Mädchen selbst: Wenn sie so deutlich wie Tim demonstrieren, dass sie sich selbst befriedigen wollen, dann sollte ihnen auch geholfen werden, eine lustvolle Entspannung durch Selbstbefriedigung zu erreichen.

Manche Menschen mit geistiger Behinderung entwickeln neben der Selbstbefriedigung keine anderen Befriedigungsformen; sie haben nie Geschlechtsverkehr. Es gibt keinen Grund, warum dies nicht zu akzeptieren wäre. Selbstbefriedigung ist nicht unmoralisch und nicht schädlich, sie verschafft Lust und trägt  zur Ausgeglichenheit bei. Wenn die Jugendlichen Langeweile haben oder noch keine erfolgreiche Methode der Selbstbefriedigung herausgefunden haben, kann dem Beobachter das „Herummachen“ am Körper und an den Geschlechtsorganen allerdings manchmal endlos vorkommen. Tatsächlich aber reagiert der Körper einfach nicht mehr, wenn ihm keine Pause gegönnt wird (siehe hierzu auch Behinderte Jugendliche und Sexualität)

Umgang mit anderen

Über Brita, 16 Jahre, impfgeschädigt, berichtet der Vater, sie „macht sich an jeden Mann ran“: Sie umarme ihn, drücke sich an ihn, versuche, ihn zu küssen. Wie leicht könnte sie an jemand geraten, der ihr nur zu gern entgegenkommt!
Ähnliche Klagen sind häufig zu hören, nicht nur bei Mädchen, sondern auch bei Jungen. Im Kindesalter fand man das noch niedlich – es hieß: „Das Kind ist verschmust!“ Jetzt aber, im Jugendalter, wird gefragt, was gegen diese „Distanzlosigkeit“ getan werden kann.
Wird genauer beobachtet, dann stellt sich allerdings heraus, dass die Jugendlichen – und auch die Erwachsenen – oft keineswegs distanzlos sind. Dem Postboten und dem Busfahrer sagen sie freundlich guten tag, ansonsten aber üben sie Zurückhaltung; die Verkäuferin im Geschäft kann noch so liebenswürdig sein, auch von ihr halten Sie Abstand. Es handelt sich hier jeweils um Menschen, deren Rolle ganz klar ist – die Mädchen und Jungen wissen, was diese Leute zu tun haben, und zu diesem Wissen gehört, dass sie bestimmt nicht zum Liebhaben da sind.Aber wie ist das mit anderen Menschen? Vater und Mutter äußern ihre Liebe durch Zärtlichkeiten, Umarmungen und Küsse, und auch die Geschwister zeigen manchmal so ihre Zuneigung. Hier lernen die Kinder, die geistig  behindert sind, eine Körpersprache, mit der sie sich sehr viel einfacher verständlich machen können als mit Worten.

Statt zu sagen: „Du bist mir sympathisch, ich mag dich!“ und zu fragen „Magst du mich auch?“ gehen sie unbefangen auf den anderen Menschen zu, schmiegen sich an ihn und versuchen, ihn zu streicheln. Diese Körpersprache wird missverstanden, wenn man darin Dinstanzlosigkeit sieht.Daraus ist für Eltern, für Betreuerinnen und Betreuer zu lernen, dass die nicht-sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung viel mehr Aufmerksamkeit verdienen, um die Verständigung zu verbessern. Sie fühlen sich dann auch nicht mehr gedrängt,  ein „unangenehmes“, „klebriges“ „unbeherrschtes“ Verhalten zu unterdrücken, sondern sie können Menschen mit geistiger Behinderung helfen, ihre Körpersprache differenzierter einzusetzen und beispielsweise nicht jeden Fremden zu umarmen; oft werden sie auch einfach nur gute Dolmetscher sein und erklären, was mit einer Annäherung gemeint ist.Fast alle Kinder machen eine Zeit des „Fremdelns“ durch: Sie lehnen – manchmal sogar bei Eltern und Geschwistern – Annäherungen mehr oder weniger heftig ab. Damals haben sich die Großmütter und Tanten beschwert, weil sie „nicht mal ein Küsschen“ kriegten, und den Männern fiel auf: „Warum versteckt denn nur das Kind seine Hände auf dem Rücken, wenn ich es begrüßen will?“ Damals wurde alles getan, um den Widerstand des Kindes gegen Annäherungen zu überwinden: „Es darf dir doch wirklich nicht so schwer fallen, etwas lieber zu sein, denn du magst doch deine Oma (deine Tante, den Onkel, usw.)!“

Wären die Bedürfnisse, sich zurückzuziehen und andere Menschen auf Abstand zu halten, mehr beachtet und geachtet worden, dann würde sich das Kind jetzt, da diese „Phase des Distanzhaltens“ überwunden ist, wahrscheinlich in seiner Körpersprache ohne besondere Anleitungen differenzierter ausdrücken: Ihm wäre nicht allzu erfolgreich eingeimpft worden, dass Distanz negativ zu beurteilen ist.

Noch eine weitere Schwierigkeit muss erwähnt werden. Es fällt immer wieder auf, wie distanzlos und undifferenziert mit Menschen, die geistig behindert sind, umgegangen wird; beispielsweise können sie noch so alt sein, sie werden meist, als sei das selbstverständlich, geduzt. Wie sollen Menschen mit geistiger Behinderung einen Umgang lernen, der Personen und Situationen angemessen ist, wenn ihnen selbst so wendig achtungsvoll begegnet wird?

Sexuelle Beziehungen

Sexualität ist Körpersprache. Es gibt „Selbstgespräche“ (Selbstbefriedigung), die manchen Menschen zu genügen scheinen, und „Gespräche mit anderen“, zu denen der Blick ebenso gehört wie das Tasten und Streicheln, die Umarmung, das Küssen. Der ganze Körper ist beteiligt. Die Einengung auf die Genitalien ist eine Sonderform der Sexualität, die in den alten Hochkulturen, beispielsweise Griechenlands und Chinas, vorwiegend praktiziert wurde, wenn Fortpflanzung bezweckt war.

Menschen mit geistiger Behinderung – so wird oft behauptet – seien mehr an einer „Ganzkörpersexualität“ orientiert als an „genitaler Sexualität“. Das mag für Menschen mit sehr schwerer geistiger Behinderung zutreffen; bei vielen ist aber zu fragen, ob das mangelnde Interesse an den Genitalien und am genitalen Ausdruck der Sexualität nicht Folge der Benachteiligungen und Vernachlässigungen ist, unter denen Menschen mit geistiger Behinderung zu leiden haben, und ob nicht auch der Mangel an Gelegenheiten eine bedeutsame Rolle spielt. Oft haben sie nicht einmal ein Zimmer als eigenen Intimbereich, wo sie mit Freund oder Freundin ungestört zusammen sein können.

Wie die Lebenspraxis zeigt, sind geistig behinderte Mädchen und Jungen, die gelernt haben, sich selbst zu befriedigen, im allgemeinen auch zum Geschlechtsverkehr fähig. Sie fangen auch am ehesten an, intimere Kontakte mit Gleichaltrigen zu suchen. Dabei können auch gleichgeschlechtliche Beziehungen entstehen, denn es ist sicher davon auszugehen, dass Homosexualität und Heterosexualität unter Menschen mit geistiger Behinderung ähnlich häufig vorkommen wie in der Gesamtbevölkerung. Viele Eltern kommen damit gut zurecht, weil sie froh sind, dass ihr Sohn, ihre Tochter überhaupt eine stabile sexuelle Beziehung gefunden hat. Eltern, die Schwierigkeiten haben, sollten sich nicht scheuen, sich in Beratungsstellen helfen zu lassen.

Schwangerschafts-Verhütung

Ein wichtiges Problem, das gelöst werden muss, ist die Schwangerschaftsverhütung. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass es schon sehr bald nach dem Beginn der Pubertät zum ersten Geschlechtsverkehr kommen wird. Menschen mit geistiger Behinderung begnügen sich im allgemeinen lange Zeit mit Zärtlichkeiten, Umarmungen, Aneinandergeschmiegtsein. Wenn es aber so weit ist, dass sie auch genitale Kontakte probieren, sollten sie wissen, was sie tun können, um eine Schwangerschaft auszuschließen.Im allgemeinen kann davon ausgegangen werden: Menschen, die gelernt haben, einen Geschlechtsverkehr zu vollziehen, sind auch in der Lage, für Schwangerschaftsverhütung vorzusorgen.

Dabei sind Mädchen mit einer geistigen Behinderung meist geradezu erstaunlich zuverlässig. Allerdings brauchen sie eine Erinnerungsstütze, wenn die „Pille“ eingenommen werden soll: Die Packung muss stets an derselben auffälligen Stelle liegen – etwa neben dem Zahnputzglas oder beim Kaffeegeschirr -, damit die Einnahme nicht vergessen werden kann. Und sie brauchen eine eigene Ansprechpartnerin, einen Ansprechpartner, denen sie vertrauen und die für sie da sind, wenn sie Rat oder Hilfe brauchen (z. B: Was ist zu tun, wenn doch einmal vergessen wurde, die „Pille“ einzunehmen?).

Welche Methode zur Verhütung einer Schwangerschaft eingesetzt werden soll, muss sehr sorgfältig geprüft und überlegt werden. Hierbei kann auch eine entsprechende Fachliteratur hilfreich sein (z. B. Römer: „Streicheln ist schön“,  siehe Abschnitt Iteraturauswahl). Unbedingt sollte eine Fachärztin, ein Facharzt zu Rate gezogen werden. Es muss berücksichtigt werden, ob Belastungen durch Krankheiten vorliegen und welche Medikamente (beispielsweise Antiepileptika) eingenommen werden müssen. Wichtig ist es auch, wie oft der Geschlechtsverkehr stattfindet.
Grundsätzlich sind alle Methoden der Schwangerschaftsverhütung möglich. Da hier aber unbedingt die Gegebenheiten beim einzelnen Menschen zu berücksichtigen sind, sei an dieser Stelle auf die weiterführende Fachliteratur (siehe Abschnitt Literaturauswahl) und die Möglichkeit einer Beratung hingewiesen.

Wichtig ist, dass der Partner voll beteiligt ist, damit er auch darüber informiert ist, wie verhütet wird, sich dafür mit verantwortlich fühlt und dabei mitwirkt (nicht nur gegen das Vergessen, sondern auch bei der Übernahme der Kosten).
Männer können zur Verhütung das Präservativ (Kondom, „Überzieher“) benutzen. Der Gebrauch ist einigermaßen kompliziert und muss eingeübt werden. Damit die Jungen sich daran gewöhnen, können sie bei der Selbstbefriedigung öfter ein Kondom benutzen. Für das richtige „Aussteigen“ müssen sie lernen, nicht so lange zu warten, bis das Glied wieder klein und schlaff ist, und unbedingt das Kondom an der Peniswurzel festzuhalten (sonst rutscht der „Überzieher“ ab, und der Erguss läuft aus).

Sterilisation

Die Eltern von Thea, 24, und Rolf, 24, können sich nicht einigen, wie sie entscheiden sollen. Ihre Kinder – sie haben bei der Geburt Gehirnschäden erlitten – lernten sich in der Werkstatt kennen. Nun wollen sie auch in der Freizeit zusammen sein, sich gegenseitig besuchen und gemeinsam übernachten. Die Eltern von Thea wären einverstanden, aber die Eltern von Rolf wollen da nicht mitmachen. „Sollen wir für unseren Jungen gerade stehen? Was kann da alles passieren!“ Sie seien – sagen sie – nur dann mit „regelmäßigen und unüberwachten Treffen“ einverstanden, wenn sichergestellt ist, „dass kein Nachwuchs entsteht“. Darauf reagieren Theas Eltern ziemlich gereizt:“ Sollen wir etwa unsere Tochter sterilisieren lassen?“

Es bedarf sicher keiner besonderen Anstrengung, um beide Eltern, die von Thea und die von Rolf, zu verstehen. Sie wollen das Beste für ihre Kinder. Aber ist es auch das Beste, wenn zum Beispiel Rolfs Eltern in einer Sterilisation die Lösung aller Probleme sehen?Die Sterilisation ist nicht nur ein im allgemeinen nicht wieder rückgängig zu machender chirurgischer Eingriff (also eine Körperverletzung), sondern sie bedeutet immer auch einen Eingriff in durch das Grundgesetz geschützte Persönlichkeitsrechte. Noch leben Menschen mit geistiger Behinderung unter uns, die aber immer noch schwer darunter leiden, dass sie sterilisiert wurden – entweder zwangsweise, oder in früher Kindheit, als sie nicht einmal ahnen konnten, was ihnen geschah. Sie kommen sich verstümmelt vor. Darum ist es sehr zu begrüßen, dass das am 01.01.1992 in Kraft getretene Betreuungsgesetz auch die Sterilisation regelt und nur unter genau beschriebenen Bedingungen zulässt. Genannt seien hier nur die wichtigsten:

  • Zwangssterilisation und Sterilisation Minderjähriger ist verboten.
  • Sterilisation ist grundsätzlich nur zulässig, wenn die betreffende Person selbst einwilligt.
  • Die Sterilisation einwilligungsfähiger Menschen ist sehr erschwert (§ 1905 BGB): Das Vormundschaftsgericht setzt einen „besonderen Betreuer“ ein, der keine sonstigen Betreuungsaufgaben gegenüber dem Betroffenen haben darf; dessen Einwilligung bedarf der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht, die erst erteilt werden darf, wenn mindestens zwei befürwortende Gutachten vorliegen, und zwar zu den medizinischen, psychologischen, sozialen, sonderpädagogischen und sexualpädagogischen Gesichtspunkten.

Der § 1905 BGB regelt genau, unter welchen Voraussetzungen eine Sterilisation zulässig ist: Die oder der Betreute muss auf Dauer einwilligungsfähig sein, sie oder er muss zur Fortpflanzung fähig sein und tatsächlich Geschlechtsverkehr haben (ein Mann darf sterilisiert werden, wenn seine Partnerin schwanger werden könnte), eine Sterilisation ist möglich, um eine ernsthafte Gefahr für Leben oder Gesundheit oder eine seelische Gefährdung durch die voraussichtliche Trennung vom Kind abzuwenden.

Es ist deutlich: Eine Sterilisation soll, wenn die Betroffenen nicht selbst zustimmen können, wirklich nur als allerletzte Möglichkeit in Betracht kommen, erst dann, wenn alle anderen Methoden der Schwangerschaftsverhütung ausgeschlossen werden müssen.
Demnach kann den Eltern von Rolf und von Thea folgendes geraten werden:

Da die beiden jungen Leute einwilligungsfähig sind (sie können einsehen, was eine Sterilisation bezweckt und welche Folgen sie für sie hat), ist die Entscheidung für oder gegen eine Sterilisation ganz allein ihre Angelegenheit. Sie müssen sich klar darüber werden, ob ihre Beziehung von Dauer ist und ob sie auf eigene Kinder verzichten können. Wenn sie sich für eine Sterilisation entscheiden, dann sollte sich  Rolf sterilisieren lassen, weil der Eingriff bei Männern leichter und unter Umständen korrigierbar ist.KinderwunschWenn Menschen, die geistig behindert sind, sich unbedingt ein Kind wünschen, können sehr schwierige  Probleme entstehen. Früher war es üblich, Müttern mit geistiger Behinderung ihre Kinder gleich nach der Geburt wegzunehmen und in Heimen und Pflegestellen unterzubringen oder zur Adoption freizugeben, weil angenommen wurde, die Kinder würden nicht ausreichend versorgt.

Heute sind alle Fachleute aus Erfahrung klüger. Es hat sich herausgestellt, dass die Kinder  – zumindest, solange sie noch klein sind –  sehr gut von Müttern und Vätern, die geistig behindert sind, betreut und gefördert werden. In den Niederlanden, in Dänemark, wie auch in Deutschland (z. B. in Berlin, Bethel, Kiel) gibt es hinreichend Erfahrungen, die zeigen, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung sehr wohl in der Lage wären, mit Kindern zusammenzuleben und Kinder großzuziehen, wenn sie dabei genügend unterstützt würden.Das  Landgericht Berlin hat bereits 1988 in einem Urteil festgestellt, die Würde des Menschen wäre angetastet, wenn Mütter und Väter mit geistiger Behinderung von vornherein vom Zusammenleben mit ihren Kinder  ausgeschlossen würden. Der Artikel 6 des Grundgesetzes (Schutz der Familie und Erziehungsrecht der Eltern) schütze auch Eltern, die geistig behindert sind und lasse keine Ausnahme zu, etwa „die bloße Erwägung, dass minderbegabte Eltern ihren Kindern nicht  dieselben Entwicklungsmöglichkeiten bieten können wie normal begabte Eltern“. Ehe Kinder ihren Eltern weggenommen werden dürfen müssten alle nur erdenkbaren Hilfen für Eltern und Kinder versucht werden.

Die gesellschaftlichen Bedingungen, die dieses Urteil fordert und voraussetzt,  sind noch nicht geschaffen. Vorläufig ist es immer noch so, dass meist die Großeltern des Kindes einspringen müssen, wenn die Eltern allein dem Kind nicht mehr gewachsen sind.
In den meisten Fällen ist  es vernünftig, wenn Menschen mit geistiger Behinderung keine Kinder in die Welt setzen. Auf ihren Kinderwunsch zu verzichten, fällt ihnen jedoch oft sehr schwer. Sie träumen davon, ein gesundes, schönes Kind zu haben. Die Erfüllung dieses Traumes würde ihnen bestätigen, dass sie erwachsen sind, abgelöst von den Eltern, weil sie nun selbst Eltern sind, dass sie keine Außenseiter, sondern normal sind.

Hier wird die Wichtigkeit einer möglichst früh beginnenden sexualpädagogischen Begleitung von Mädchen, Jungen und auch Erwachsenen mit geistiger Behinderung deutlich, in der der Tagesablauf in der Betreuung von kleineren und größeren Kindern vermittelt wird, mit allen schönen und schwierigen Seiten. Hier können die Menschen mit geistiger Behinderung lernen, dass ein Kind zu haben nicht die Voraussetzung für Erwachsensein ist, und sie entscheiden dann vielleicht selbstbestimmt, dass sie kein Kind haben wollen oder können. Sie werden auch dabei begleitet, mit dieser Entscheidung fertig zu werden.

Sexueller Missbrauch

Zum Schluss muss noch ein besonders mit Tabus belegter, kaum aufgeklärter und besonders bedrückender Problembereich angesprochen werden: der sexuelle Missbrauch von Mädchen, Frauen und Jungen mit geistiger Behinderung.
Verführungen und Missbrauch oder gar Vergewaltigungen durch fremde, völlig unbekannte Männer scheinen selten zu sein. In den allermeisten Fällen sind es Mitglieder der Familie (ältere Brüder, Väter) oder Männer aus der nächsten Umgebung (Nachbarn, manchmal Mitarbeiter in Einrichtungen), die zu Tätern gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden. Was kann zum Schutz der Mädchen und Jungen getan werden?

Dasselbe, was sich auch bei Mädchen und Jungen, die nicht geistig behindert sind, bewährt hat:

  • geduldige offene und lebensnahe Sexualaufklärung
  • Kontakte mit Gleichaltrigen, die positive Erfahrungen mit Zärtlichkeit und Erotik ermöglichen.

Darüber hinaus muss von früh an alles getan werden, was das Selbstbewusstsein stärkt. Dazu gehört z. B. auch eine schöne Kleidung, eine  hübsche Frisur, Schminke usw. Am wichtigsten aber ist, dass Kinder nicht immer gehorchen müssen, dass ihnen eigene Wünsche und Interessen zugestanden werden.  Kinder werden von den Eltern meist nicht dafür gelobt, wenn sie „Nein“ sagen. Erwachsene müssen lernen, dieses „Nein“ zu respektieren. Stolz, Selbstbewusstsein und Ungehorsam machen den Rücken stark, um „Nein“ sagen zu können, wenn es auf dieses „Nein“ ankommt.

Hilfen für Eltern, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Eltern, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen für Menschen die geistig behindert sind, stehen immer wieder vor Aufgaben, die allein kaum zu bewältigen sind; sie brauchen Rat und Hilfe, möglichst auch von Menschen, die nicht den gleichen Belastungen ausgesetzt sind. Sie sollten zunächst einmal sich gegenseitig helfen, indem sie offen, ehrlich und achtungsvoll miteinander umgehen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung haben durch ihre Ausbildung andere Voraussetzungen. Sie bekommen Unterstützung in regelmäßigen Teambesprechungen und im allgemeinen in einer begleitenden Supervision. Eltern haben es häufig schwerer. Sie sind häufig berufstätig und kümmern sich um ihr Kind mit bewundernswerter Treue und großen persönlichen Opfern.

Eltern haben das Recht, auch an sich selbst zu denken.

Eltern haben oft große Ansprüche an sich und sind oft überfordert und alleingelassen. Eins wenigstens sollten sie überlegen und besprechen: Ist es wirklich gut und richtig, was für so viele Eltern selbstverständlich zu sein scheint, dass nämlich ihr Kind, auch wenn es 18, 30 und 40 Jahre geworden ist, immer noch mit ihnen zusammen in der elterlichen Wohnung lebt? Gehört nicht zu einer geglückten Elternschaft, dass auch die Ablösung und Freigabe des Kindes gelingt?

Es gibt heute Wohngruppen und Wohnstätten, wo Menschen mit geistiger Behinderung von ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach Bedarf mehr oder weniger intensiv betreut werden. Es gibt viele Beispiele dafür, dass der Sohn, die Tochter im Zusammenleben mit Gleichaltrigen, ob allein in einer Gruppe oder mit einer Partnerin oder einem Partner, vielleicht sogar in der Form einer „beschützten Ehe“, noch einmal ganz neue Anregungen bekommt, die eine Entwicklung bisher brachliegender Fähigkeiten und Fertigkeiten voranbringt. Für die Eltern wäre es beruhigend, wenn sie erleben, dass ihr Sohn, ihre Tochter sie nicht mehr nötig hat.