Spätfolgen-Symptome (PPS) und ihre Auswirkungen

In den vergangenen Jahren wurden in den USA die Spätwirkungen nach Poliomyelitis (Post-Polio-Syndrom) erforscht und Rückschlüsse daraus gezogen. Die hier genannten Symptome stehen in Zusammenhang mit einer früher durchgemachten Polioerkrankung. Sie variiert je nach  Schwere der ursprünglichen Infektion, Alter, Belastung und allgemeiner Konstitution.

Vier Kategorien sind bekannt:

Ungewöhnliche Müdigkeit:

Diese bezieht sich nicht nur auf stark beanspruchte Muskelpartien nach körperlicher Anstrengung, sondern kann auch anfallsweise bei nervlichen Streß oder allgemeiner starker Belastung auftreten. Es kann zu geistigen Ausfällen und plötzlichem Einschlafen kommen

Gelenk- oder Muskelschmerzen

Chronische oder vorübergehende Muskelschmerzen rühren von Überanstrengungen und Verspannungen, treten aber auch spontan auf. Betroffen sind besonders häufig die Halswirbelsäule und das untere Rückgrat sowie die Extremitäten.

Häufig sind auch sekundäre Schmerzen, die auf Überanstrengung einzelner Muskelpartien oder auf Verformung der Gelenke zurückzuführen sind. Gleichgewichtsstörungen sind vor allem bei Übermüdungen zu beobachten. Vorzeitige Osteoarthritis tritt bei Gelenken auf, die ausgleichend arbeiten müssen. Es wird auch von nicht lokalisierbarem „grippeähnlichen“ Schmerzgefühl im ganzen Körper berichtet.

Zunehmende Muskelschwäche

Die Muskeln, die sich von der ursprünglichen Lähmung im Anfangsstadium gut erholt haben und die seitdem „normal“ beansprucht wurden, sind am stärksten von Spätfolgen betroffen.
Zunehmende Schwäche und Schmerzen zeigen die Veränderungen an. Aber auch die Körperregionen, die scheinbar keine Ausfälle hatten, erweisen sich nach Jahrzehnten als eingeschränkt funktionsfähig und werden zusehens schwächer.

Atembeschwerden

Schwierigkeiten beim Atmen werden oft nicht als Folge der früheren Erkrankung erkannt. Die Brustmuskulatur verliert, genau wie andere Muskelpartien, an Leistungsfähigkeit, so daß der Brustkorb nicht immer genügend gedehnt werden kann. Die Folge ist ein geringeres Lungenaufnahmevolumen, was zu Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und allgemeiner Abgeschlagenheit führen kann. In extremen Fällen treten Atemstillstand während des Schlafs auf.

Poliomyelitis – Die manchmal unterschätzte Gefahr bei einer aussterbenden Krankheit

Dank intensiver Impfkampagnen, vor allem auch unter der Federfürung der Weltgesundheitsorganisation, ist es in den vergangenen 10 bis 15 Jahren gelungen, die weltweite Zahl der Poliomyelitiserkrankungen stark zu vermindern. Waren 1988 weltweit noch 350.000 Poliomyelitiserkrankungen geschätzt worden, so betrug die Zahl im Jahr 2000 nur noch etwas über 7.000 Erkrankungen.

Zahlreiche Länder, ja sogar ganze Kontinente, können Dank dieser intensiven Impfbemühungen heute als poliofrei betrachtet werden, wie z. B. die Staaten Nord-, Mittel- und Südamerikas, für die die Poliofreiheit durch die WHO bereits im Jahre 1992 zertifiziert werden konnte oder auch die Staaten des Westpazifischen Raumes, die im Jahr 2000 als sicher poliofrei erklärt wurden. Aber auch zahlreiche andere Länder, z. B. die europäischen Länder, für die Zertifizierung durch die WHO noch aussteht, gelten als poliofrei.

Mehr und mehr wächst die Hoffnung, dass bei Poliomyelitis nicht nur die Krankheitszahlen noch weiter vermindert, sondern dass sogar die Infektion mit dem Poliowildvirus selbst ganz unterbunden werden könnte, d. h. dass die Infektion ausgerottet werden kann. Man spricht hierbei von der Eradikation der Poliomyelitis, deren Endziel auch das Beenden der Polioimpfungen ist.

Eines der Probleme bei der Polio-Eradikation ist aber, dass nur bei einem von 200 bis 1.000 mit dem Virus infizierten Personen eine typische Polioerkrankung mit Lähmungen auftritt. Um das Ziel der gesicherten weltweiten Polioausrottung zu erreichen, fordert die Weltgesundheitsorganisation daher von jedem Land folgende Maßnahmen.

  • Sicherstellung einer generellen Durchimpfung der Bevölkerung von etwa 90 %;   dabei ist darauf zu achten, dass keine Bevölkerungsgruppierungen mit   erheblich schlechterer Durchimpfung als sogenannte „Impfnischen“ vorliegen.
  • Aufbau eines Überwachungssystems mit dem nachgewiesen werden kann,   dass keine Polioinfektionen mehr vorliegen sowie dass möglicherweise   eingeschleppte Polioinfektionen schnell erkannt werden können
  • Aufbau eines Sicherungssystems, mit dem fahrlässige Freisetzung von   Poliowildviren aus Laboren ausgeschlossen werden können.

In zahlreichen Ländern, in denen seit Jahren keine Polioerkrankungen mehr aufgetreten sind, macht sich die Hoffnung breit, dass auch in Zukunft keine Polioerkrankungen mehr geben wird. Die nach wie vor notwendigen Polioimpfungen werden als Ergebnis dieser Einstellung vernachlässigt.

Wie wichtig gerade in der jetzigen Phase der Bemühungen um die Ausrottung der Poliomyelitis unverändert der Impfbemühungen sind, soll anhand von einigen Beispielen gezeigt werden.

Polioschutz in der Bundesrepublik Deutschland

Bei Erhebungen in Deutschland über die Durchimpfung gegen Poliomyelitis zeigt sich, dass die Grundimmunisierung (3 Impfungen bei Säuglingen und Kleinkindern) zwar zwischen 80 und 90 % liegt, dass es aber auch Gruppen von Kindern gibt, z. B. Kinder ausländischer Herkunft, bei denen die Durchimpfung lediglich 20 bis 50 % beträgt.

Für einen vollständigen Polioschutz empfiehlt die Ständige Impfkommission seit vielen Jahren nach Vorgaben der WHO nach der Grundimmunisierung im Säuglingsalter eine weitere Auffrischimpfung für einen vollständigen Polioschutz erforderlich ist, so erfüllen – wie zahlreiche Stichprobenerhebungen ergeben – lediglich ca. 40 bis 50 % der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland diese für die Polioausrottung notwendige Vorgabe.

Bei Untersuchungen über den serologisch bestimmbaren Immunschutz gegen Poliomyelitis in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland besitzen ca. 30 % der Menschen in Deutschland keinen sicheren Polioschutz gegen alle drei vorhandenen Poliostämme. Bei vielen dieser Menschen liegt zwar der Schutz gegen zwei oder drei Stämme vor, aber es besteht kein Gesamtschutz. Anscheinend reicht die Zahl der gegen Poliomyelitis geschützten Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus, um Polioerkrankungen zu verhindern.

Durch die Umstellung von dem Lebendimpfstoff auf den Totimpfstoff im Jahr 1998 fehlt jedoch der indirekt erfolgende Impfschutz für die Umgebung eines Geimpften (durch Ausscheidung des Impfvirus mit dem Stuhl und Übertragung durch Schmierinfektionen); dies bedeutet, dass die Zahl der gegen Polio ungeimpften Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zunehmen wird, da nur der Mensch einen Immunschutz haben wird, der auch direkt mit dem Totimpfstoff geschützt wurde.

Poliomyelitis auf den Kapverdischen Inseln
Seit Jahren galt dieser Inselstaat als poliofrei. Im Spätsommer und Herbst des Jahres 2000 traten innerhalb von kurzer Zeit 30 paralytische Polioerkrankungen mit 14 Todesfällen auf. Die Infektion war anscheinend von dem südwestafrikanischen Staat Angola eingeschleppt worden, wie die Erregertypisierung zeigten. 24 der Erkrankten waren nicht geimpft, 6 der Patienten hatten allerdings einzelne Polioimpfungen in ihren Impfdokumenten. Dies belegt, dass auch in ein poliofreies Land Polioinfektionen eingeschleppt werden und das auch bei einer anscheinend guten Durchimpfungsrate immer genug empfängliche Personen vorhanden sind, die erkranken können.

Da sich die Kapverdischen Inseln zunehmend auch zu einem Urlaubsland entwickeln, bedeutet dies, dass auch von dort in die Bundesrepublik Polioviren eingeschleppt werden können. Dies gilt vor allem auch nach der Umstellung der Impfstrategie von dem Lebend- auf den Totimpfstoff, da auch bei gutem Schutz gegen Erkrankungen dennoch Polioviren im Darm mitgebracht werden können.

Poliomyelitis in der Dominikanischen Republik

In der zweiten Hälfte des Jahres 2000 erkrankten in der Dominikanischen Republik in einer Region mit einer niedrigen Polioimpfrate über 30 Patienten mit akuten Lähmungen, als deren Ursache die Infektion mit einem sogenannten Sabin Like Virus, d. h. einen mutierten Polioimpfvirus nachgewiesen werden konnte. Ob es sich dabei um eingeschleppte Infektionen oder um Infektionen ausgehend von einem Einheimischen, der möglicherweise über längere Zeit Polioimpfviren nach einer Poliolebendimpfung ausschied, handelte, ist bisher nicht bekannt. Dank eines gut geführten Überwachungssystem für Polioinfektionen in der Dominikanischen Republik konnte die Ursache schnell geklärt und durch Abriegelungsimpfungen behoben werden. Auch dieser Fall beweist, wie wichtig ein hoher Immunisierungsgrad und ein funktionierendes Überwachungssystem sind.

Poliomyelitis in Bulgarien
Ende März 2001 waren in Bulgarien in einer Stadt an der Schwarzmeerküste 2 Kinder an Poliomyelitis, hervorgerufen durch Poliovirus Typ 1, erkrankt. Nach der Sequenzanalyse kann ein Import aus Nordindien angenommen werden.

Polioimmunität und Migration

Bei Untersuchungen von Asylbewerbern in Niedersachsen zeigte sich, dass 30 bis 40 % dieser Menschen keinen vollen Immunschutz, d. h. gegen jeden der drei Poliomyelitiserreger (Typ 1 – 3), besitzen.Damit ist anzunehmen, dass die Zahl der Menschen, die nicht ausreichend immun gegen Poliomyelitis sind, auch in der Bundesrepublik langsam aber stetig zunehmen wird. Daher besteht die Gefahr, dass in Zukunft eingeschleppte Poliomyelitisviren wieder mehr und mehr empfängliche Personen vorfinden, Poliomyelitisinfektionen und damit Polioerkrankungen prinzipiell wieder möglich werden. Es ergeben sich somit auch für alle diejenigen Länder, die zur Zeit poliofrei sind, zwei wichtige Schlussfolgerungen:

  • Auch in den kommenden 10 Jahren darf mit der Impfung gegen Poliomyelitis nicht nachgelassen werden, sondern es sind die Bemühungen – jetzt zwei Jahre nach der Umstellung von dem Lebend- auf den Totimpfstoff – sogar noch erheblich zu steigern, damit tatsächlich insgesamt 90 % der Bevölkerung einen ausreichenden Impfschutz besitzen. Vor allen Dingen müssen die bestehenden Impflücken aufgespürt und der bei vielen Menschen noch nicht korrekte Impfschutz gegen Poliomyelitis muss vervollständigt werden. Bei Menschen ausländischer Herkunft ist für einen sicheren Immunschutz zu sorgen.
  • Ein funktionsfähiges Überwachungssystem ist vorzuhalten, mit dem eingeschleppte Polioerkrankungen schnell erkannt und die Infektionen damit abgeblockt werden können.